STOFFSAMMLUNG: EMILY SEGAL


Text: Leonie Volk
Illustration: Caroline Marine Hebel

Plant eine Firma einen neuen Markenauftritt, wendet sie sich in der Regel an die New Yorker Coolhunterin Cayce Pollard. Diese ist wegen ihrer Abneigung gegen wirkungsvolle Firmenlogos auf entstehende Trends sensibilisiert und hat den richtigen Riecher, wenn es darum geht, was einer Käufergruppe gefällt. Klingt nach Science-Fiction, im Fall von Cayce Pollard – der Protagonisten aus William Gibsons Roman Mustererkennung – ist es das auch.

Bei Emily Segal sieht das anders aus. Die Trendforscherin prägte 2014 mit dem Kollektiv K-Hole den Begriff Normcore (ein Neologismus aus normal und hardcore) – ein Trend, der sich vom Individualismus abwendet und auch noch heute, vierJahre nach seiner Veröffentlichung, relevant ist. Youngsters in urbanen Räumen wie Brooklyn und Berlin-Mitte tragen seit Normcore Baseball-Caps, No-Label-Shirts, Trainingsanzüge und Sandalen in Anti-Fashion-Manier und bereichern sich an der Ästhetik des Kleinbürgertums. Bisheriger Höhepunkt der Normcore-Welle? Im vergangenen Jahr schickte Balenciagas Kreativdirektor Demna Gvasalia Väter mit ihren Kindern über den Laufsteg. In Arbeiterhose, Karottenjeans, Granddad-Jacke und Spießer-Hemd gekleidet, inszenierten die Herren für seine Frühjahr-Sommer-Kollektion 2018 zusammen mit ihren Sprösslingen einen „ganz gewöhnlichen“ Ausflug durch den Park.

Obwohl Normcore aus dem Mode-Vokabular nicht mehr wegzudenken ist, würde Emily Segal nicht behaupten, dass sie die Zukunft voraussehen kann: „Es geht eher darum, ein entstehendes Verhaltensmuster zu erkennen.“ Dafür spricht sie mit Menschen, die sie inspirieren, achtet auf deren kleine ästhetischen Entscheidungen, liest und recherchiert in Büchereien. Auf Instagram beobachtet sie sexy Blockbuster-Ladies wie Kim Kardashian, Cardi B und Amber Rose. Häufig zieht die Wissenschaftlerin Mode zum Vergleich heran, denn die Dynamik unserer Kultur lässt sich hervorragend an ihrem Beispiel erörtern – auf einen Trend folgt eine Gegenbewegung und darauf etwas Neues.

Aufgewachsen auf der Upper West Side von Manhattan, war Segal schon in ihrer Kindheit täglich von modischen Einflüssen umgeben: Sie traf auf exzentrische Passanten, spazierte an hippen Boutiquen vorbei, schaute zu ihrer Mutter und deren Freundinnen auf und experimentierte mit ihrem eigenen Look. Sie fand es spannend, dass Mode einerseits belächelt und andererseits als Kulturphänomen begriffen wird: „Ich versuche dieses Spannungsverhältnis immer wieder aufzugreifen. Ich finde es faszinierend, dass Mode wie eine Sprache funktioniert. Und mir gefällt die Kreativität, die durch sie entsteht.“

Während ihres Studiums der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaften an der Brown University in Rhode Island verschlingt sie den Roman Mustererkennung von William Gibson. Fasziniert von den scheinbar hellseherischen Fähigkeiten des fiktiven Charakters Cayce Pollard, fragt sich die Studentin, wie der Beruf einer Trendforscherin in der Realität aussieht. Zurück in New York fällt ihr die kognitive Dissonanz der Kreativen in ihrem Umfeld auf, die ihre kommerzielle Arbeit radikal getrennt von ihrem künstlerischen Schaffen begreifen. Die Phobie vor der Vermischung von Kunst und Kommerz kitzelt sie. Ein Trendbericht, der Segal und ihren vier Freunden Greg Fong, Sean Monahan, Chris Sherron und Dena Yago zugespielt wird und das Verhalten junger, urbaner Konsumenten und deren Verhältnis zu Jugendkultur, Mode und Luxus ergründet, ist Anstoß für ihre erste eigene Abhandlung: „Es handelte sich bei diesen 10.000 bis 30.000 Euro teuren PDFs um pop-philosophische Dokumente, die in gewisser Weise unsere Erfahrung schilderten. Der Bericht war informativ, uns gefiel der Schreibstil und die Fotografien. Also entschieden wir uns, an einer eigenen Version zu arbeiten – die wir umsonst und nicht als teures Abonnement veröffentlichen wollten.“

Unter dem Namen K-Hole, der den Zustand nach dem Konsum einer hohen Dosis Ketamin beschreibt, bei dem akustische und visuelle Halluzinationen sowie außerkörperliche Erfahrungen erlebt werden, publizierten sie auf ihrer selbstgebastelten Website erste Berichte. Mit dem vierten PDF Youth Mode: A report on freedom gelingt ihnen der Durchbruch. Der Begriff Normcore verbreitet sich wie ein Lauffeuer: „Mit Normcore wollten wir uns von der veralteten Vorstellung von Coolness distanzieren, anders und einzigartig zu sein. Wir begriffen, dass es durch die Globalisierung und eine Internetbasierte Medienkultur immer einfacher werden würde, die kulturellen Bedeutungsträger zu erkennen und demnach schwieriger, sich auf diese Weise abzugrenzen. Normcore war für uns eine Fantasie, ein Weg, in möglichst vielen Kontexten und Gefügen gleichzeitig zu funktionieren.“ Dass der Begriff missinterpretiert wurde und es bei dem Phänomen nicht darum ging, sich möglichst simpel oder gar langweilig zu kleiden, schadete ihrem Erfolg nicht: Die fünf Jungunternehmer berieten von nun an etablierte Firmen wie MTV, Kickstarter und Coach.

Mittlerweile hat sich das Kollektiv getrennt. Segal lebt aktuell in ihrer Wahlheimat Berlin, wo sie mit dem finnischen Architekten Martti Kalliala vor sechs Monaten das Think-Tank und Beratungsunternehmen Nemesis Global gründete. Arbeiten wird das Duo von Berlin, Helsinki und New York aus. Inhaltlich sind ihre Schwerpunkte ähnlich wie die von K-Hole. Zusätzlich recherchieren und beraten sie in den Bereichen Technologie, Urbanistik und Designstrategie. Viel verraten will Segal noch nicht. Die Mode steckt ihrer Ansicht nach im Paradigmenwechsel und die Industrie steht vor neuen Herausforderungen: Wie geht sie möglichst progressiv mit Ironie, Appropriation und dem östlichen Kulturkreis um? Wie nutzt sie Lieferketten verantwortungsvoll?

Ob der noch streng geheime Bericht, der im Sommer erscheinen wird, Antworten liefert und an den Erfolg von Normcore anknüpfen wird, muss sich noch zeigen. Wir sind auf jeden Fall gespannt. Schließlich ist Emily Segal in der Mode momentan so wichtig wie einst das Orakel von Delphi für die Herrscher des antiken Athen.

Dieser Artikel ist in Achtung Ausgabe 35, April 2018 erschienen.

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