RÜSCHEN SIND DAS KOKAIN DER WEIBLICHKEIT

Was macht einen Mann männlich? Und was ändert sich, wenn er gern Frauenkleider trägt? Eine Begegnung mit dem britischen Künstler Grayson Perry in seinem Londoner Studio


Interview: Leonie Volk
Fotos: Andre Titcombe


Grayson Perry betritt im geblümten Kimono den Raum. Seine Augenbrauen sind grell nachgezeichnet, die Wangen rot bemalt. Wenn er spricht, hallt eine tiefe Männerstimme durch den Raum. Eine paradoxe Erscheinung, die jeden sofort in ihren Bann schlägt. Auch Prince Charles muss es so gegangen sein, als er Perry in diesem Jahr zum „Commander of the Most Excellent Order of the British Empire“ ernannte und so für seine Verdienste um die Kunst ehrte. Perry gehört zu Englands bekanntesten zeitgenössischen Künstlern. In der Presse wird er der Transvestiten-Töpfer genannt. Er lebt mit Frau und Kind im Londoner Stadtteil Islington. 2003 erhielt er für seine bemalten Keramikvasen den begehrten Turner-Kunstpreis. Perrys Werke haben oft autobiographische Züge und beschäftigen sich mit Geschlechterrollen, Sexualität, Klasse und Religion. Der Künstler tritt meinungsstark für die Emanzipation des Mannes ein. Dazu gehört für ihn das Recht, Schwäche zeigen zu dürfen.

Maskulinität wird oft mit Stärke, Härte und Aggression gleichgesetzt. Warum ist das so?
Streng genommen ist alles, was ein Mann tut, maskulin. Maskulinität ist männliches Verhalten. Aber wenn ein Mann ein Kleid trägt, ist das dann maskulin? Das ist die eigentliche Frage. Einige moderne Feministen halten Aggression und Gewalt nicht zwangsläufig für maskulin, Männer weisen nur derartiges Verhalten häufiger auf als Frauen. Sie begehen die meisten Gewalttaten und Verbrechen, sind eher korrupt und eher rassistisch.

Und diese Tendenzen sind Ihrer Meinung nach veranlagt?
Männer sind körperlich stärker. Sie sind anders gebaut und ihnen wird von Geburt an beigebracht, dass sie der Vorstellung von Männlichkeit zu entsprechen haben.

Welchen Einfluss hat die Emanzipation der Frau auf das gesellschaftliche Bild des Mannes?
Die Emanzipation der Frau hat einen großen Einfluss, weil Männer nicht länger eine Monopolstellung haben. Bis zu einem gewissen Grad ist die westliche Welt heute eine Frauenwelt. Im Westen haben Frauen am Arbeitsplatz viele Vorteile. Ihre natürlichen Talente, wie emotionale Intelligenz, ihre Team- und Kommunikationsfähigkeiten sind in der modernen Arbeitswelt gefragt. In Amerika dominieren Frauen inzwischen den Arbeitsmarkt. Und diese Entwicklung wird fortschreiten, weil Menschen in allen Branchen erkennen, dass Frauen besser sind.

Wie sieht der ideale moderne Mann aus? Was macht ihn dazu?
Über Ideale sollte man sich keine Gedanken machen. Das bringt nur Ärger. Ein historischer Landsmann von Ihnen hatte jedenfalls eine Vorstellung davon, wie der ideale Mann auszusehen habe (lacht).

Sie meinen Hitlers Schönheitsideal vom blonden arischen Hünen …doch lassen wir extremistische Ideologien mal außen vor. Sie haben eine Tochter in meinem Alter, was wäre der ideale Mann für Sie?
Er sollte sie glücklich machen. Das ist aber sehr vage formuliert. Vielleicht sucht sie nach einem unbelehrbaren Neandertaler, aber das bezweifle ich. Es gibt kein Rezept für den perfekten Mann.

In welche Richtung sollte sich „der Mann von heute“ aus Ihrer Sicht entwickeln?
Männer sollten sich den Anforderungen der Zeit stellen; sie müssen sich verändern, weil die Welt sich verändert. Das ist aber ein Luxusproblem des Westens – der Minderheit der Weltbevölkerung. Die meisten Männer leben in Entwicklungsländern und befassen sich mit den Problemen und Traditionen der dortigen Gesellschaften. Das sind oft Probleme, die wir bei uns schon seit hunderten von Jahren aus dem Weg geräumt haben.

Kann man also gar nicht von DEM globalisierten Mann sprechen?
Es besteht da ein Konflikt zwischen der westlichen Welt, die sehr tolerant und liberal ist, auch gegenüber Schwulen etwa, und den Entwicklungsländern, die intoleranter und konservativer ticken. Allerdings begünstigen die modernen Kommunikationsmittel und Medien ein Umdenken. Wir wissen, was in anderen Ländern vor sich geht. Ein schwuler Mann in Uganda oder Nigeria hat im Internet Zugang zu Videos, die zeigen, wie Schwule in Deutschland und Großbritannien leben.

In einigen Dingen scheint das männliche Geschlecht weltweit nachzuhängen, zum Beispiel in Sachen emotionale Intelligenz.

Bei emotionaler Intelligenz geht es um Empathie. Man muss sich in die Gefühle einer anderen Person hineinversetzen können, um Sympathie und Empathie zu entwickeln. Männer werden aber zur Stärke erzogen. Sie lernen, ihre eigenen Gefühle zu ignorieren, also sind sie auch für die Emotionen anderer weniger empfänglich. Solche Strukturen zu verändern, dauert sehr lange. Wie gesagt: Es ist einfacher, in Islington über solche Themen zu diskutieren als in Pakistan. In England gehen junge Männer auf Privatschulen und danach machen sie einen Abschluss in Kunstgeschichte oder Soziologie. Bauarbeiter in Pakistan haben solche Entfaltungsmöglichkeiten
nicht.

Welche Rolle spielt die Gleichberechtigung der Geschlechter in einer modernen Beziehung?
Ich habe einen interessanten Artikel gelesen: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass gleichberechtigt lebende Ehepartner weniger Sex haben.

Können Sie sich das erklären?
Das könnte daran liegen, dass die Paare geschlaucht von ihrem Alltag sind. Sie teilen sich die Kinderbetreuung, haben zwei Jobs. Einmal habe ich ein Publikum dazu befragt, ob sie Sexfantasien hätten, in denen die Gleichberechtigung der Geschlechter eine tragende Rolle spielt.

Wie sahen die Antworten aus?
Keiner der 1.500 Menschen im Saal hat die Hand gehoben. Stattdessen fantasiert man, am Arbeitsplatz vom Chef verführt zu werden oder wie man die Sekretärin verführt. Das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern wirkt erregend. Die männliche Sexualität ist so ausgelegt, dass sie nach Unterschieden sucht. Sie fühlt sich von Gegensätzen angezogen. Vielleicht spielt gerade dieses Machtungleichgewicht eine entscheidende Rolle für die sexuelle Anziehungskraft. Das heißt, sobald man gleichberechtigt ist, wird das Verlangen schwächer. Außerdem gehört zu einer glücklichen Ehe viel mehr als guter Sex. Ich denke, viele Menschen haben dieses Traumszenario
im Kopf, dass in einer glücklichen Ehe der Sex überragend sein muss.Das stimmt aber nicht immer.

Warum denken Sie, wird die Frauenmode von Männern bestimmt?
Männer dominieren alles, nicht wahr? (lacht) Das kann man historisch zurückverfolgen. Generationen über Generationen von Männern wurden in ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Verhalten bestärkt. Frauen hingegen wird eingetrichtert, dass sie weniger wert sind, und so bleibt das System bestehen.

Die Männermode hat sich über die Jahrzehnte kaum verändert. Exzentrische Trends sind die Ausnahme. Stabilisiert das Design die Machtposition des Mannes?
Männer haben nie wirklich die Chance ergriffen, Paradiesvögel zu sein. Sie wollen nicht angestarrt werden. In Kleiderfragen haben Frauen weitaus mehr Spielraum. Wenn man sich so kleidet wie ich, sind die Blicke nicht unbedingt angenehm. Männer wollen letztendlich die Rolle des Entscheiders und nicht des Bestimmten einnehmen.

Wie meinen Sie das?
Männer schauen und Frauen werden angeschaut. Was ist das typischste Männeroutfit? Wahrscheinlich ein grauer Anzug. Der ist langweilig, aber warum wird der graue Anzug von Männern getragen? Weil sie damit nicht zum Objekt werden, weil sie so keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihre Aufgabe ist es, sich umzuschauen. Umso männlicher man ist, desto unscheinbarer tritt man auf. Umso unscheinbarer man ist, desto mehr Macht besitzt man in der Rolle des Betrachters. Es ist wie im Wachturm eines Gefängnisses. Von dort aus beobachtet man die anderen: Schwarze, Schwule, Frauen.

Wie stehen Sie zu Modemachern wie J.W. Anderson, die Männer in Kleider und Röcke stecken?
Alle Jahre wieder greifen Modedesigner dieses Thema auf. Es wird aber lange dauern, unseren Sinn für Schönheit zu verändern, gerade weil die meisten Leute Männer in Röcken und Kleidern nicht attraktiv finden. Vertrautheit ist entscheidend für unser ästhetisches Empfinden. In Ländern wie Thailand gehören Röcke an Männern zum Stadtbild. Weil es dort normal ist, finden es die Menschen attraktiv.

Also steht es in Europa schlecht um den Männerrock?
Röcke an Männern werden sich nur durchsetzen, wenn Männer zulassen, angeschaut zu werden – und daran glaube ich nicht. Ich ziehe mich normalerweise auch nicht so zur Arbeit an. Ich genieße es, ein Kerl zu sein, der anonym herumläuft. Ich meine, ich weiß, was es bedeutet, angestarrt zu werden. Manchmal ist das ganz nett,
aber ich kann auch darauf verzichten.



Wann tragen Sie Frauenkleidung?
Normalerweise mache ich das zwei-, dreimal die Woche. Heute trage ich ein Kostüm, weil ich am Vormittag Central-Saint-Martins-Studenten unterrichtet habe. Sie designen ein Kleid für mich und ich wollte ihnen zeigen, was mir gefällt. Sonst putze ich mich heraus, wenn es andere auch tun. Also zu Veranstaltungen, zum Brunch, zu Ausstellungen. Wenn ich in ein Restaurant gehe vielleicht auch.

Hat das Cross Dressing eine therapeutische Wirkung auf Sie?
Es ist eine Freizeitaktivität. Ich finde es sexy. Ich bin ein Fetischist, es macht mich an. Wenn das eine therapeutische Wirkung hat, bin ich damit einverstanden.

Wie kamen Sie dazu, Frauenkleidung auszuprobieren?
Ich hatte eine Fantasie, dass die Wächter eines Kriegsgefangenenlagers die Insassen zwingen, Kleider zu tragen. Ihr Ziel war es, die Häftlinge zu erniedrigen. Die Vorstellung hat mich angetörnt und ich dachte, ich probiere es mal aus. Also habe ich mir von meiner Schwester Kleider geborgt. Mit zwölf habe ich damit angefangen, mit 15 habe ich mich in die Öffentlichkeit getraut. Die Leute konnten sich vermutlich denken, dass ich keine Frau bin. Ich war nicht besonders gut darin, mich zu verkleiden.

Hatten Sie Angst vor den Reaktionen?
Ja, aber das ist ja Teil des ganzen Spaßes. Wir machen Dinge, die uns Angst machen. Es ist aufregend.

Ihre Kostüme haben sich über die Jahre stark verändert.
Angefangen habe ich wie die meisten Transvestiten. Ich wollte so aussehen wie eine Frau. Diese Phase hat 25 Jahre angehalten. Je älter und selbstbewusster ich wurde, desto mehr probierte ich aus. Ich habe eine Latexphase durchgemacht, Fetisch-Looks getragen. Anfang der 2000er hatte ich keine Lust mehr darauf. Ich begann, mich wie eine Hausfrau zu kleiden. Niemand schaute mir nach. Es verlor seinen Reiz. Am Kleinmädchen-Look bin ich hängengeblieben. Ein Mädchenkleid mit Rüschen ist das femininste Kleid, das es gibt. Deshalb finden viele Kerle diese Kleider toll. Sie sind das Kokain der Weiblichkeit.

Was reizt Sie im Speziellen am Kleinmädchen-Look?
Er ist mir peinlich. Beschämt zu sein, die Demütigung, das reizt mich. Das ist ganz typisch für einen Fetischisten.

Wo liegen die Wurzeln dieses Cross Dressings?
Man kann das alles auf eine schwere Kindheit zurückführen. Ich wurde nicht als Transvestit geboren. Man hat möglicherweise eine Veranlagung zur Feinfühligkeit, aber ich glaube nicht, dass man auf die Welt kommt in der Hoffnung, einen BH zu tragen. Die große Stärke der menschlichen Psyche ist es, der Demütigung, die man als Kind erlebt hat, durch Sexualität eine positive Wendung zu geben.

Durch Ihre Kostüme möchten Sie also liebenswürdig erscheinen.
Das wäre eine rationale Erklärung.

Der Transvestit und Eurovision-Song-Contest-Gewinner Conchita Wurst …
(unterbricht) Ist er ein Transvestit oder eine Dragqueen? Das ist ein großer Unterschied! Dragqueens sind meist schwul und ihr Auftreten ist satirisch.

Viele wissen nicht, dass Transvestiten meist heterosexuell sind.
Ich halte Conchita für eine schwule Dragqueen. Wäre er ein Transvestit, würde er keinen Bart tragen. Transvestiten wollen wie eine Frau aussehen. Transsexuell kann er demnach auch nicht sein, denn das erste, was man tut, wenn man wie eine Frau aussehen möchte, ist es, sich den Bart abzurasieren.

Was bedeutet Conchitas Sieg für Europa?
Europa akzeptiert die Schwulen und Transsexuellen. Man könnte den ESC auch als das schwule Weihnachten bezeichnen, oder? Conchita ist ein leichtverständliches Symbol, gerade jetzt, wo Schwulenfeindlichkeit weltweit diskutiert wird. Er hält die Flagge hoch: Wir kämpfen gegen Russland. Er ist aber keine anspruchsvolle zeitgeschichtliche Figur oder kulturell von Bedeutung. Mit dem Bart nutzt er ein leicht veraltetes Bild. Ein Mann mit Bart in einem Kleid, das gabes schon tausendmal.

Wie erklären Sie sich den aktuellen Hype um den Bart?
Der Männerbart hatte ein großes Revival, vor ein paar Jahren war er das Symbol männlicher Authentizität in einer Welt, in der Marken an Bedeutung verloren hatten. Der Mittelklasse-Hipster wollte etwas, das als authentisch gilt und wählte den Bart. Ich habe aber das Gefühl, Conchita Wurst hat das Schicksal des Bartes besiegelt.

Wird so die bärtige Frau zum Inbegriff der Krise des Mannes?
Zumindest kann sie ein Spiegel der veränderten Rolle des Mannes sein. Heute wird der Mann nicht mehr so stark darüber definiert, was er tut, deshalb konzentriert man sich verstärkt auf sein Äußeres und feminisiert ihn. Ein Mädchen wird traditionell für ihr Aussehen gelobt und der Junge für sein Schaffen. Wenn man sich aber nicht mehr auf das Tun konzentriert, konzentriert man sich auf das Sein. Überhaupt werden Männer immer überflüssiger. In anderen Worten: Die Ameisen umgarnen ihre Königin. Und nach der Paarung stirbt die männliche Ameise.

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